Ko Un - ein Gedicht  

Die Erste Person – traurig

Ko Un ist der bekannteste Dichter Koreas. Sein Gedicht "Die Erste Person – traurig" hat er freundlicherweise handschriftlich zur Verfügung gestellt. Es erscheint hier erstmals in deutscher Übersetzung von Dr. H. J. Zaborowski.

VON KO UN

Handschriftliche Aufzeichnung (Ko Un)

Ich bin traurig. Die Einsicht plötzlich voller Widersprüche.
Zu Beginn des letzten Jahrhunderts,
nach der Revolution, sowjetische Dichter
beschlossen, nur noch von "Wir" zu reden,
nur noch als "Wir"
wollten die Dichter von sich selbst noch reden.
Sie waren begeistert.
Diese ihre Entscheidung –
wegen schwerer Stürme
konnte sie nicht die Straßen erobern, und so
blieb sie in den Zimmern, blieb aber gültig.
Ein jeder allein
beschwor für sich das "Wir".
Dort, irgendwo hinter den Spiegeln,
irgendwo verbarg sich das "Ich".
An einem hellen, klaren Tag tauchte Majakowski auf,
und schrie, und schrie nur "Wir".
Er war ein Dichter der Straßen.
Das "Ich", das war verboten,
das "Ich" war ein Verbrechen.
"Wir"
"Wir" – nur das allein, das hatte zauberhafte Macht.

Allmählich fiel und fiel der Luftdruck,
Sommerblumen – immer wieder, wie viele Male – wurden sie zertreten?
Die Revolution, sie verschlang die Revolution.
Aus den Bällen aller Kinder wich die Luft,
und auch das "Wir"
verlor aus seinem straffen Inneren die Luft.
Jemand war so kühn
Und schrieb "Ich liebe",
doch noch hielt sich der Brauch zu lesen "Wir, wir lieben".
Winterschnee noch nicht ganz geschmolzen,
der Frühling war noch ungewiss.


Ko Un, Dichter und Nationalheld


Ko Un ist der bekannteste Dichter Koreas. Er wurde 1933 in der Provinz Chollabukdo geboren, verbrachte zehn Jahre in einem buddhistischen Kloster, veröffentlichte 1960 seinen ersten Gedichtband, dem hundert weitere folgten. Heute lebt Ko Un bei Seoul.

In den siebziger und Anfang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts wurde er wegen seines politischen Engagements verfolgt, verhaftet und gefoltert.


Am Ende des letzten Jahrhunderts
starb die Sowjetmacht,
die Staaten des Warschauer Paktes –
einer um den anderen zerfiel, verschwand
und seitdem
gibt es für die Dichter, allesamt, nur noch das "Ich".
So wie ein jeder Tag mit "Ich" beginnt,
so dämmert er mit "Ich"
und außer diesem "Ich"
gibt’s nichts,
und selbst für "Gott" ist "Ich" ein andrer Name.

Heute in der Weite des Pazifik
begraben Wellen, endlos, Totengeister, dieses "Ich" und dieses "Wir".
Was wird wohl daraus neu geboren werden?
Es wird wohl weder "Wir" sein,
auch kein "Ich" – doch was?

Eine Welle ist der andren Welle Grab,
ist der andren Welle Schoß.

Ko Un